Evolutionspsychologie – der sein „Mitgegebenes“ bewusst verwirklichende Mensch

von Andreas Hejj

 

Psychologie ist bekanntlich die Wissenschaft vom Verhalten und Erleben des Menschen.

Dabei gibt es unterschiedliche Forschungs- und Erklärungsansätze, die sich gegenseitig in ihrem Bemühen unterstützen, dem Einzelnen dabei zu helfen, seine Ziele besser zu erkennen und zu erreichen und mit seiner sozialen Umwelt in harmonischen Beziehungen zu leben. Jede Erfahrungswissenschaft lebt davon, dass historisch neuere Modelle bestimmte Facetten der Wirklichkeit zutreffender erklären und voraussagen können als die älteren Modelle. Stets hat also das neuere Paradigma die Chance, sich gegen die alten durchzusetzen, bis einige Zeit später ein wiederum neueres Paradigma, bestimmte Aspekte der Wirklichkeit noch besser erklären kann.

So hatte es die Evolutionspsychologie (EP) der frühen 90er Jahre keineswegs leicht, neben dem etablierten kognitionspsychologischen Ansatz Anerkennung zu finden, legte doch die kognitive Wende der 70er Jahre den Menschen die gern gesehene Annahme nahe, sie würden alle auf sie einströmenden Informationen, einem riesigen Rechner ähnlich, nüchtern und rational analysieren, um dann die nach dem verfügbaren Erkenntnisstand bestmögliche Entscheidung zu treffen: Der Mensch könnte alles begreifen und hätte alles im Griff.

Allerdings ließ die vielfache Irrationalität menschlichen Verhaltens erhebliche Zweifel an diesem, manchmal ein wenig blutleeren Menschenbild aufkommen. Also schickte sich eine mutige Gruppe junger Forscherinnen um Leda Cosmides, Margo Wilson, Margie Profet in den USA (und ihre Kolleginnen in der BRD, wie etwa Doris Bischof-Köhler, Margarete Schleidt, oder Johanna Uher) zusammen mit ihren Kollegen an, den neuen Zweig EP auszubauen. Dieser transdisziplinäre Ansatz integriert die erst zum Ende des 20. Jahrhunderts verfügbaren Erkenntnisse u. a. der Tiefenpsychologie, der Ethologie, der Ethnologie, der vergleichenden Kulturanthropologie, der Spiel- und der Systemtheorie, der neuronalen Netze, der Psychoneuroimmunologie und der Molekulargenetik. Im Unterschied zur Soziobiologie, handelt es sich bei der EP um eine hypothesengeleitete, streng experimentelle Wissenschaft.

Gegenstand der EP sind jene Verhaltenstendenzen, die allen Menschen gemeinsam sind, die der gesamten menschlichen Art allgemein sind. Dies schließt jede mögliche Diskriminierung (etwa die aufgrund der Abstammung eines Individuums) aus. Die Bezeichnung „Rasse“ war unter ideologischer Verblendung und mit den bekannten fatalen Konsequenzen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gebräuchlich. (Hier, für eine Leserschaft, die die deutsche Geschichte kennt, sei nur auf ein weniger bekanntes Beispiel verwiesen: Der Präsident der Vereinigung Amerikanischer Psychologen (APA), Stanley Hall, beklagt den ersten Weltkrieg wegen der Vernichtung der von ihm so genannten "great Nordic race[Hall, G.S. (1917). Practical relations between psychology and the war. Journal of Applied Psychology, 1, 6-13]). „Rasse“ kommt in der EP weder als Begriff noch als Konzept vor.

Spricht ein Evolutionspsychologe von „evolvierten Verhaltenstendenzen“, also von solchen, die sich als Anpassung an die Umweltbedingungen der frühen Vorfahren aller Menschen entwickelt haben, so muss er keineswegs Anhänger des Darwinismus sein, also daran glauben, dass der Mensch „vom Affen“ abstamme. Angenommen wird lediglich, dass heute wirksame Verhaltenstendenzen durchaus eine lange Entstehungsgeschichte aufzuweisen haben.

Die EP macht deutlich, dass ein konkretes Verhalten durch eine ganze Reihe von Faktoren ausgelöst wird, zu denen neben bewusster Reflexion und freiem Willen auch umweltbedingte, historische, kulturelle, situative und lerngeschichtliche gehören. Hinzu kommt unsere „Voreinstellung“, auf Herausforderungen, die unsere Spezies seit Tausenden von Generationen erfolgreich bewältigt hat, zunächst so zu reagieren, wie es sich seit Jahtausenden bewährt hat. Experimente von Öhmann, Erixon und Lofberg zum lerntheoretischen Konzept der Bereitschaft zeigen z.B., dass wir viel leichter und nachhaltiger lernen können, Schlangen zu fürchten als Häuser. Unsere heutige Umgebung in der anonymen Massengesellschaft unterscheidet sich erheblich von jener der Stammesgesellschaft der südostafrikanischen Savanne der frühen Steinzeit, in der sich bestimmte, tausendfach bewährte Verhaltenstendenzen aller Menschen als vorteilhaft ausbreiten konnten. Wir sind von unseren ursprünglichen Lebensbedingungen abgerückt: entsprechend wirkt so manche unreflektierte „moderne“ Verhaltenstendenz verrückt. War es damals in der Tat sinnvoll, einer Giftschlange nicht zu nahe zu treten, so schadet sich der/die moderne Jugendliche, wenn er/sie in Furcht vor der Begegnung mit einer Blindschleiche lieber dem Zeltlager mit seinen Freunden fernbleibt. Aus unserem heutigen Leben wird es kaum verständlich, warum die Klatschspalten über die Mitglieder der „High Society“ so gierig gelesen werden. Dieses Beäugen der Stammesführer wird erst im Lebenskontext unserer Vorfahren sinnvoll.

Solche „Vorlieben“ gewinnen für den verantwortungsbewussten Sozialwissenschaftler dann besondere Brisanz, wenn sie dem Gleichbehandlungsgebot demokratischer Gesellschaften zuwiderlaufen. Genau dieser Gefahr setzt man sich aber aus, wenn man die Erkenntnisse der Evolutionspsychologie ignoriert oder gar leugnet. Ein Beispiel: Befragt man Richter, ob das Aussehen von Angeklagten für die Urteilsfindung und für das Strafmaß relevant sei, so antworten sie mit einem klaren „nein“. Gibt man den gleichen Tathergang jeweils mit dem Foto eines aus unabhängigen Beurteilungen als sehr gut aussehenden bzw. sehr wenig gut aussehendem „Angeklagten“, so gibt es doch einen höchstbedeutsamen Unterschied im Strafmaß zugunsten der gut Aussehenden. Efran konnte diesen Befund immer wieder replizieren, unabhängig vom Geschlecht der Richter oder der Angeklagten. Dies ist eine de facto Diskriminierung aufgrund des Aussehens. Sobald diese Tendenz den Richtern bewusst gemacht und belegt wird, so können sie es willentlich ausgleichen, so dass die Angeklagten nun fair beurteilt werden. Auch Studierende können erst mit einer fairen Prüfung rechnen, wenn ihre Prüfenden bewusst reflektieren, welche Reaktionen ihre Aufmachung in ihnen sonst auslösen würde. Die Befunde von Buss zeigen, dass ein höchst eleganter Kandidat im Armani-Anzug von einem männlichen Prüfer als statushöhere Konkurrenz wahrgenommen werden könnte, dem es zu zeigen gilt, dass doch der Prüfer der „Boss“ ist. Entsprechend prüft er ihn penetrant, es sei denn, er weiß um die entsprechenden EP-Erkenntnisse und kann dieser „Versuchung“ bewusst entgegensteuern.

Evolutionspsychologen werden oft gefragt, ob wir nun „Sklaven“ unserer bewährten Verhaltensprogramme seien. Die Antwort lautet: keineswegs! Wir können etwa angesichts eines äußerst attraktiven Menschen des für uns passenden Geschlechts unser aufkeimendes romantisches Interesse jederzeit bewusst bremsen und "nein" sagen, wenn diese Partnerschaft etwa beruflicher Natur und keine Paarbeziehung sein soll. Hingegen muss uns erst noch die Frau oder der Mann begegnen, die/der nur kraft ihrer/seiner bewussten Entscheidung erfolgreich zu beschließen vermöchte, sich aufgrund „rationaler“ Argumente in jemanden zu verlieben, wenn diese Person keine Merkmale zur Schau trägt, die deutlich machen, dass sie in der Steinzeit eine gute Mutter bzw. ein guter Vater gesunder Kinder sein hätte können.

Oft wird die EP dahingehend missverstanden, dass nur ein Verhaltensmuster für bestimmte Situationen angelegt sei. In Wirklichkeit entwickelte sich eine große Anzahl von Verhaltenstendenzen für die Vielfalt der Konstellationen, mit denen unsere Vorfahren konfrontiert waren. Insofern gleicht unser mitgegebenes Verhaltensrepertoire eher einem Rezeptbuch als einem einzigen Rezept. Die Erkenntnisse de EP können dazu beitragen, die Voraussetzungen zu schaffen, dass das „Buch“ an der gewünschten Seite aufgeschlagen wird. Um Menschen zu Kooperation und Solidarität zu bewegen, ist es wirksamer, die lebensrettende evolutionäre Relevanz dieser Verhaltensweisen zu kennen und die Situation in der Gegenwart entsprechend gestalten zu können, als den moralischen Zeigefinger zu erheben. Somit ist die Zielsetzung der EP, dem Menschen jene Bedingungen an die Hand zu geben, die es ihm ermöglichen, heute unangemessen gewordene Verhaltenstendenzen bewusst zu vermeiden und aus dem Vollen seines „Mitgegebenen“, des Erfahrungsschatzes seiner Vorfahren, zu schöpfen.

 

Standardwerk:

Barkow, J., Cosmides, L., & Tooby, J. (1992). The adapted mind. Evolutionary psychology and the generation of culture. Oxford: University Press.

 

 

Auszüge aus: Controversies surrounding evolutionary psychology von Edward H. Hagen, Humboldt-Universität zu Berlin (Gesamttext)

 

Political correctness

In 1632, Galileo’s Dialogue concerning the Two Chief World Systems, Ptolemaic & Copernican was published in Florence. The Dialogue effectively argued that Copernican theory was the factually superior theory of cosmology. Because the major moral/political power of the day, the Catholic Church, had grounded its authority in the Ptolemaic theory, Galileo’s Dialogue was a threat. Galileo was summoned before the Inquisition in 1633, found to be vehemently suspect of heresy, forced to formally abjure, and condemned to life imprisonment.

Like the Church, a number of contemporary thinkers have also grounded their moral and political views in scientific assumptions about the world. In the current case, these are scientific assumptions about human nature, specifically that there isn’t one (Pinker 2002). Theories calling these assumptions into question are, like Galileo’s Dialogue, a threat. The problem, of course, is not with those who claim that there is a human nature, it is with those who have succumbed to the temptation to ground their politics in scientifically testable assumptions about humans. This is especially unwise because the science of human psychology is currently quite undeveloped.

There are few solid facts and no proven theories about our behavior, thoughts, and feelings. Any set of assumptions will undoubtedly be challenged by future research. Yet the inevitable research that calls into question assumptions underlying popular moral and political views will, in effect, be heresy, and heresies are, as a rule, viciously attacked. As long as important political and moral views are grounded in scientific hypotheses, a true science of human cognition and behavior will be difficult, and perhaps impossible, to achieve.

 

Is evolutionary psychology racist or sexist?

Perhaps the most important enlightenment value, one intimately bound up with the blank slate view of human nature, is that of human equality. If EP poses a severe threat to the blank slate, and it does (Pinker 2002), does it not also pose a severe threat to this rightly cherished value? Let me put off answering this question for a moment, and first explain what EP says, scientifically, about the equality of human capabilities. The answer is simple and by now easily guessed by the reader. Across the globe, human bodies are, in their functional organization, virtually identical. People in every population have hearts, lungs, and livers, and they all work the same way. A pan-human anatomy is a solid empirical fact. EP proposes that the same evolutionary processes that lead to a pan-human anatomy also lead to a pan-human psychology (Tooby and Cosmides 1990; see Wilson 1994 for a partial critique). Notwithstanding the above, it is possible for different populations to possess minor adaptive physical differences like skin color, so it is also theoretically possible for different populations to possess minor adaptive cognitive differences, though no such differences are known to exist. Just as anatomists have prioritized a focus on pan-human anatomy, EP has prioritized a focus on pan-human psychology.

Similarly, male and female bodies are identical in most ways, but profoundly different in some. Male and female hearts are essentially identical, but testicles are very different from ovaries. EP proposes that the same is true of the brain. Male and female cognitive abilities are likely to be identical in most respects, but to differ fundamentally in domains like mating where the sexes have recurrently faced different adaptive problems (Buss 2004).

If you consider these implications to be racist or sexist, then evolutionary psychology is racist or sexist. Nothing in evolutionary theory, however, privileges one group over another, or males over females. Are ovaries superior to testicles? The question is meaningless. Are male mate preferences superior to female mate preferences? The question is equally meaningless.

 

Is evolutionary psychology a form of genetic determinism?

Critics often accuse evolutionary psychologists of genetic determinism, and, in one sense, they are right. It is telling evidence of a pervasive dualism, though, that anatomists escape this abuse. Although the processes whereby genetic information directs the development of bodily functions are still largely unknown, there are compelling empirical and theoretical reasons to believe that there are genes for arms, legs, and lungs. Because all humans (with rare exceptions) have arms, legs, and lungs that are built the same way, we can surmise that we all share essentially the same genes for these limbs and organs. The universal architecture of the body is genetically specified in this sense. Since psychological adaptations like vision are no different from other adaptations in this regard, they, too, are genetically specified human universals.

This, however, is not what is usually meant by ‘genetically determined.’ Sometimes what is meant is that behavior is genetically determined. But genetically determined mechanisms does not imply genetically determined behavior. Just as a genetically determined universal skeletal architecture of bones and muscles can perform a huge variety of new and different movements, so too can a genetically determined universal psychological architecture that evolved to be exquisitely attuned to local environmental circumstances produce countless behavioral outcomes in different individuals with different experiences and in different situations. If the brain had only twenty independent mechanisms, each of which could be in only one of two states set by local environmental conditions, the brain would have 220 , or about a million, different states and, potentially, a corresponding number of different behaviors. Because the EP model of the brain posits a very large number of innately specified mechanisms (perhaps hundreds or thousands), most of which are sensitive to environmental conditions, the brain could potentially be in any one of an astronomically large number of different states with different behavior outcomes, even if many of these modules were not independent of one another. EP’s model of a genetically determined, massively modular brain predicts far too much behavioral flexibility and diversity, not too little.

 

Why do people hate evolutionary psychology?

Slavish support for reigning political and moral attitudes is a sure sign of scientific bankruptcy. It is reassuring, then, that EP has something to offend just about everyone. Surely you, the reader, if you are not already a jaded evolutionary psychologist, are offended by at least one of EP’s speculations that there might be innate, genetically based adaptations hardwired into our brains for rape, homicide, infanticide, war, aggression, exploitation, infidelity, and deception.

I know I was. If, further, you would like to see these plagues wiped from the face of the earth, you might understandably be sympathetic to critics who advance something like the following syllogism, which appears to underlie most criticisms of EP:

I [the critic] want political change, which requires changing people. Evolutionary psychologists argue that people have innate and unchangeable natures, so they must therefore be opposed to social or political change, and are merely attempting to scientifically justify the status quo.

If EP predicted that social or political change were impossible, then it would be wrong on its face. The tremendous amount of social and political change over the course of human history is irrefutable. This is no real mystery. Consider a hypothetical population of organisms whose ‘natures’ are completely genetically specified and unchangeable. Suppose, further, that these organisms have a number of identical preferences and desires, all unchangeable, but, because resources are limited, not all individuals can fulfill their desires. These creatures are therefore often in conflict with one another. Suppose, finally, that these organisms have the ability to negotiate. It is not hard to see that even if individuals’ natures are unchangeable, social outcomes are not. Because our hypothetical organisms are able to negotiate, they are (potentially) able to form social arrangements that are equitable, fairly dividing resources and punishing individuals who violate these agreements. When circumstances change, new agreements can be forged.

Circumstances will change, so social change is inevitable despite the creatures’ unchangeable natures. In fact, it is their genetically determined, unchangeable cognitive ability to negotiate that guarantees social change! Because humans, too, can negotiate, and can also dramatically ‘tune’ their individual, innate, psychological architectures based on their past experiences and current circumstances, the possibilities for social change are multiplied thousandfolds.